Baur: Argens, in: Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber (Hrsg.), Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, 5. Teil, Leipzig: Gleditsch, 1820, S. 211-212:
d’ARGENS, (Joh. Baptist de Boyer, Marquis) königl. preußsischer Kammerherr und Direktor der Klasse der schönen Wissenschaften bei der königl. Akademie der Wiss. zu Berlin, geb. d. 24. Jun. 1704 aus einem alten adeligen Geschlecht zu Aix in der Provence, wo <211a | 211b> sein Vater Generalprokurator des Parlements war. Schon in seinem 14ten Jahre nahm er bei dem Toulousischen Infanterie-Regimente zu Straßburg Dienste, entfloh nach einigen Jahren mit einer Schauspielerin heimlich nach Spanien, wude aber verhaftet, und begleitete nach seiner Befreiung den französischen Gesandten nach Constantinopel, bei welcher Gelegenheit er auch Algier, Tunis und Tripolis sah. Nach der Rückkehr von dieser Reise, die schon nach einigen Monaten erfolgte, ließ er sich von seinem Vater bereden, die Rechte zu studiren und Advokat zu werden. Einige Zeit betrieb er die Ausbildung seiner glücklichen Talente mit großem Eifer, allein unvermuthet verwickelte er sich abermals in verliebte Abenteuer, reiste nach Italien, und nahm 1733 wieder Kriegsdienste bei dem Regiment des Herzogs von Boufleurs in Flandern. Er wohnte noch in diesem Jahre der Eroberung von Kehl und 1734 als Kapitain der Belagerung von Philippsburg bei; allein ein unglücklicher Sturz mit dem Pferde nöthigte ihn die Kriegsdienste zu verlassen. Er ging nun nach Holland, und lebte dort von literarischem Erwerb. Die Romane und witzigen Schriften, die sein fruchtbarer Geist erzeugte, erwarben ihm die Gunst des Kronprinzen von Preußen, nachmaligen Königs Friedrich II., der ihn nach seiner Thronbesteigung als Kammerherrn zu sich berief, und 1744 zum Direktor der Klasse der schönen Wissenschaften bei der Berliner Akademie ernannte. Unter allen französischen Gelehrten, die Friedrich jemals um sich hatte, genoß keiner die Liebe und Freundschaft dieses Monarchen so lange und so innig als d’Argens, gegen den er seine geheimsten Gedanken und Empfindungen ganz unverhohlen äußerte, der diese Auszeichnung aber auch durch seine Gesinnungen und sein Betragen in jeder Rücksicht verdiente. Die sprechendsten Beweise von Friedrichs Gesinnungen gegen seinen Liebling, und von dem Vertrauen, das er auf ihn setzte, enthalten die Epitres du Roi au Marquis d’Argens, et du Marquis au Roi, in den Oeuvres posthumes de Fréderic II. T. X. p. 197. und T. XIII. p. 1. ed. de Berlin, und die Correspondance entre Fréderic II. et le Marquis d’Argens. T. II. Königsberg et Paris. 1798. 8. teutsch, Königsb. 1798. 8., in welcher letzten Sammlung sich 59 vorher ungedruckte Briefe des Königs befinden. In den Briefen d’Argens herrscht eine gewisse Laune, viel Gutmüthigkeit, gesunde Vernuft, Geschmeidigkeit ohne Falschheit, und durchaus eine Sprache des Herzens, die sie sehr anziehend macht. Er war dem Könige redlich ergeben, aber so wenig Hofmann, daß er ihm vielmehr oft freimüthig widersprach. Einige kurze Reisen nach Frankreich ausgenommen, lebte er 25 Jahre zu Berlin und Potsdam, wo er sich auch mit der berühmten Operistin Cochois verheirathete, brachte seine letzten Jahre in seiner Vaterstadt zu, und starb auf dem Schlosse der Baronesse de la Garde, seiner Schwester, unweit Toulon den 11. Jan. 1771. D’Argens war ein gutmüthiger Epikuräer, kein Muster der Moral weder im Leben noch in seinen Schriften, aber entfernt von Intriguen, der angenehmste Gesellschafter, jovial und überhaupt von einer Denkart, die ihm, trotz mancher Schwächen, Liebe und Achtung erwarb. <211b | 212a> Er hatte viel gelesen und beobachtet, besaß mannigfaltige, aber wenig gründliche Sprach= und andere Kentnisse, ging mit stets reger Wißbegierde von einem Fache zum andern über, mischte sich selbst in Chemie und Anatomie, brachte es in der Musik, Zeichen= und Malerkunst zu einer nicht gemeinen Fertigkeit, schrieb munter und witzig, freimüthig und mit Geschmack, war aber in seinen Urtheilen ein Kind des Zufalls, veränderlich und unzuverlässig, und sagte selbst, er habe Lehrsätze, die von der Jahreszeit abhingen. An ermüdenden Wiederholungen und Declamationen ließ er es auch nicht fehlen, und sein Stil war mehr leicht als kräftig. Wo er sich über die Religion ausließ, waren es hauptsächlich entweder Satzungen der Schule, Einfälle und Widersprüche der Kirchenväter, nutzlose Lehrzwiste, geheiligte Sagen und Mährchen, oder mürrische Andachten, oder klösterlicher Sittenzwang, oder Pfaffenstolz, Verfolgungssucht und Pöbelwahn, was er belachte, zuweilen mit der schalkhaften Miene eines ernsten Ehrenretters seiner Kirche, oft in einseitiger Ansicht der Dinge, fast immer in Wiederholung fremder Gedanken. Den geringsten Werth unter seinen vielen Schriften haben die incorrekt und nachlässig geschriebenen Romane, in deren einem* er seine Ausschweifungen und
Liebeshändel auf eine nicht erbauliche Weise erzählt. Seine französischen Übersetzungen von des Ocellus Schrift von der Weltsele, von des Timäus Schrift über denselben Gegenstand, und Julians fragmentarischer Schrift wider die Schriften, begleitete er mit weitläuftigen Commentaren, die viel Heterogenes und viel Freigeäußertes, viel Flüchtiges und Schwankendes enthalten, und die Übersetzungen stellen den Sinn weder überall treu noch richtig dar. Unbefriedigend sind seine Mémoires secrets de la république des lettres, à la Haye. 1737. Vol. IV. 12. öfter, zuletzt unter dem Titel : Histoire de l’esprit humain. Berl. 1765. Vol. IV. 8., worin er das Leben und die Meinungen der berühmtesten Schriftsteller erörtern, und dadurch den Fortgang der menschlichen Kentnisse zeigen wollte. Am glänzendsten zeigt er seine schriftstellerischen Talente als Philosoph und populärer Skeptiker in seinen vielgelesenen Schriften : Lettres juives, à la Haye. 1736. 8., am besten (Paris) 1766 Vol. VIII. 8. und ib. 1777. Vol. VIII. 12. auch engländ. und teutsch, Berlin 1764; 2te Aufl. ebend. 1770 – 83. 6 Th. 8. (von J. S. Patzke und J. G. Krünitz). Lettres chinoises à la Haye, 1739. Vol. V. 8. Nouv. edit. 1779. Vol. VIII. 8. teutsch, mit etlichen Briefen sowohl als auch vielen nützlichen Zusätzen und Anmerkungen aus der Handschrift des Verf. verm. Berl. 5 Thle. 1768 – 73. 8. Lettres cabalistiques à la Haye. 1741. Vol. VI. 8. ib. 1754. Vol. VII. 8. teutsch (von J. A. Tritt) Danzig 1773. 6 Thle. 8. La philosophie du bon sens, ou reflexions philosophiques sur l’incertitude des connoissances humaines. Londres (à la Haye). 1737. 12. oft, Dresde, 1769. 12. auch engl. und teutsch, Breslau 1756. 8. Mémoires pour servir <212a | 212b> à l’hist. de l’esprit. et du coeur par le Marquis d’Argens et Mlle. De Cochois. ib. à la Haye 1744. Vol. III. 8., 1765. Vol. IV. 12 teutsch Berl. 1764. 8. Critique du siecle à la Haye. 1746; 1755. Vol. II. 8. Als erfahrner Kunstkenner zeigt er sich in seinen Reflexions critiques sur les écoles du peinture. Berl. 1752. 12. Ed. II. unter dem Titel : Examen crit. ib. 1768. 8. worauf Venuti eine Risposta, Lucca 1755. 8. drucken ließ. Die Oeuvres du Marq. d’Argens. 1768. Vol. XXIV. 12. enthalten nur die Lettres juives, chin., cabal. und die Philos. du bon sens**.
*) Mémoires et lettres de Mr. le Marquis d’Argens. Londres (Rouen) 1735. 12. öfter aufgelegt; teutsch, Jena 1749. 8.
**) Vgl. Eloge du Marq. d’Arg. (par Formey) in den Nouv. Mém. de l’acad. roy. des sciences de Berl. A. 1775. Hist. p. 46. – 52. Necrologe franc. 1772. Neues gel. Europa II. Th. 773. 12 Th. 785. Hoffs Biograph. 3 Th. 150 180. Nicolais Anekdoten v. Kön. Friedrich II. Heft I. S. 11-75. Ersch gel. Frankr.
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