Anmerkungen zur Behandlung der Frage eines Nationaltheaters in den Lettres juives , in: : Beiträge zum Theater, zur Musik und der unterhaltenden Lektüre überhaupt (Stendal) 1 (1785), S. 111-117:
Anhang
des Herausgebers zu der vorhergehenden Abhandlung*
Wer die Abhandlung meines Freundes gelesen und einigen guten Willen nebst einem nicht ganz von Vorurtheilen eingenommenen Herzen hat, wird hoffentlich die Richtigkeit des Vorurtheils gegen die Sache einsehen, deren Mißbrauch nur tadelhaft ist.
Es ist einmal die Gewohnheit der Menschen, das Kind mit dem Bade auszuschütten, das Gute mit dem Bösen zu verwerfen. Und aus dieser Verwerfung pflegt es denn oftmals zu entstehen, daß die, welche verworfen werden, das Gute, das ihre Sache hat, nach und nach aus den Augen fahren lassen. –-
"Es glaubt mir' s ja keiner, daß ich gut und redlich handle, warum will ich denn länger so übertrieben ehrlich bleiben?" Das ist das gewöhnliche Lied der Alltagsmenschen, deren Gutes etwa einmal verkannt wird. -- Und der Alltagsmenschen ist auf Erden doch die größte Anzahl. Eben solche Bewandniß hat es gewiß aber auch mit der Verachtung des Theaters. Doch sind diese und andere 111|112 Ursachen des Verfalls des deutschen Theaterwesens so auseinander gesezt, daß ich sie nicht zu wiederholen nöthig habe.
Aber nicht nur bei uns herrschen solche übertriebene Vorurtheile, auch in Frankreich ist Etwas davon befindlich. Welchem Theaterfreunde sind nicht so manche hieher gehörige Anekdoten, die in Frankreich vorgefallen sind, bekannt? Wer weis nicht, daß man Moliere ein ehrliches Begräbniß verweigern wollte? Einer der auffallendsten und schönsten Schilderungen, begleitet mit treffenden Bemerkungen über diesen Punkt, die man auch bei uns beherzigen sollte, ist in den jüdischen Briefen des Herrn Marquis d' Argens befindlich. Der Jude Aaron Monceca, den er nach Paris reisen lässet, besucht daselbst die Oper, die er noch nie gesehen hatte. Er erkundigt sich bei seinem Gesellschafter, was für vornehme Damen denn die Sängerinnen sein. Sein Gesellschafter sagt ihm, die eine habe ehemals Strümpfe gestopft, die andere sei eines Schuhflikkers Tochter, die meisten sein mehrmals im Zuchthause und bei Wundärzten gewesen. „Alle diese Leute,“ fuhr er fort, „die Sie auf dem Theater sehen, sind aus unserer Kirchengemeinschaft verbannt und abgesondert, unsre Priester sehen sie als Menschen an, die keines ehrlichen Begräbnisses werth wären, und diese 112|113 Erniedrigung ist zum Theil an ihren Ausschweifungen Schuld.“ – Meint man nicht, es sei von Deutschland gesagt? In einer gewissen Stadt wollte ein nun verstorbener Prediger, der auch gegen die Komödianten predigte, einem Schauspieler seine Braut nicht antrauen. Aaron Monceca antwortete seinem Begleiter: „Warum duldet man sie denn? Warum erlaubt man, daß man hieher kommt und sie hört und selbst eine Gelegenheit ihres Verderbens ist?“ – Und sollte man das nicht allen Klätschern und Klätscherinnen sagen, die Schauspieler verlästern und doch selbst in die Komödie gehen? Wahrhaftig die, die das Theater verschreien, sei' s auch aus dem dümmsten Vorurtheile, sind wenn sie es nicht besuchen, noch verehrungswürdig, verglichen mit denen, die eben so dagegen eifern, und es doch besuchen. Denn bei jenen ist' s meistens nur Irrthum, bei diesen offenbare Gewissenlosigkeit. Aber Aaron' s Gesellschafter erwiederte: „Die Schauspiele sind einer großen Stadt nothwendig. Sie beschäftigen das Publikum auf eine angenehme Weise, sie sind eine Erholung der Gelehrten und ein Zeitvertreib der Welt. Die Spieler ersparen ihr Geld, Verläumdung und Lästerung der Frauenzimmer, Trunkenheit, Lärmen und Händel der jungen Leute werden dadurch gehemmt.“ Wenn man sich hier einen so unbefangenen Mann 113|114 vorstellet, als Aaron geschildert wird, so wird man seine Antwort sehr treffend finden: „Was? Und sie untersagen Ihren Priestern nicht, der Gesellschaft so nüzliche Leute mit öffentlicher Schande zu überhäufen? Ich sehe, daß bei Ihnen die Religion und der Staat, jedes seine besondere Pflichten und Maximen hat.“ Die Antwort ist in dem Munde eines ächten Juden um so viel passender, je mehr in Moses Religion bürgerliches Wohl und Antrieb zur Freude verwebt war. „Sie haben Recht,“ erwiederte Aarons Gesellschafter, „die Nothwendigkeit verlangt und fordert es sogar. Wenn unsere Religion so einfach wäre, als Ihre, so würden unsre Priester nicht beides mit einander vermengen können. Sie würde sich mehr der Natur und dem allgemeinen Rechte nähern; aber bei uns ist alles Geheimniß, alles Offenbarung. Alles, was die Verwahrer unsers Glaubens berühren, wird unter ihren Händen geheiligt, und da ihr Hochmuth so weit gieng, ihre Ansprüche über alle Materien auszubreiten, so hat sich der Staat gegen die Einfälle der Religion nicht anders sichern und verwahren können, als durch eine Verschiedenheit der Sitten, der Gebräuche und der Maximen. Die Kirche thut täglich Menschen in den Bann, deren Dienste sie der Republik werth machen und ihnen eine Pension bei dem Fürsten verschaffen.“ Dieses 114|115 Urtheil über die Mönchsreligion ist völlig richtig, den Gegensaz gegen die jezige jüdische ausgenommen, die ja auch äusserst viele Zusätze und Traditionen hat, die sie zum Theil von Moses herleitet, wovon auch sehr aufgeklärte Juden nicht frei sind. – In vielen Stükken aber kann man jenes Urtheil auch auf die Religion der Protestanten anwenden, insonderheit an manchen Orten, wie die vorhergehende Abhandlung und die tägliche Erfahrung zur Genüge bewiesen. Denn so verhasst, oft übertrieben verhasst ihnen Pabstthum, Möncherei und Pfafferei ist; so ist doch bei ihnen noch so vieles Papistisches übrig, daß man erstaunen muß, wie so ganz gegen den Geist und Sinn des Stifters des Christenthums sie handeln. Die ihr besser denkt, Menschenfreunde! weß Standes ihr sein mögt, tragt nach euren Kräften zum Wohl eurer Brüder bei. O es ist ein seliges Gefühl, Freude in ein Menschenherz gehaucht zu haben. Es giebt der Wonne viel auf Erden und ich hab' ihrer, Gott sei Dank! viele geschmekt; aber keine war mir je grösser, als irgend einen Schmerz gelindert, irgend eine Freude geschaffen zu haben in dem Herzen eines Menschen. Und das hieße doch auch wohl Freude und Glük wirken, wenn man unter, nun so sehr von einander entfernten, Ständen die Bande der Menschenliebe knüpfte, Künste und Vergnügen zu Mitteln 115|116 höherer Aufklärung erhöbe? Das hieße doch wohl Glük wirken, eine Anzahl von Menschen denen Ausschweifungen zu entreissen, die für sie und ihre Mitmenschen und die Nachwelt die verderblichsten Folgen haben und haben würden? – Und wer hat nicht Gelegenheit dazu, in kleinen Zirkeln wenigstens dergleichen zu bewirken? – Wenn man es also auch nicht wagt, sogleich mit Veränderungen im Großen anzufangen, so müssen guten Menschen doch Vorschläge zur Verbesserung unserer Anstalten und zur Errichtung neuer, angenehm sein. Sie können aus ihnen das nehmen, was für den kleinern oder größern Zirkel, auf den sie wirken können, anwendbar ist. Und wenn mehrere das thun; so muß dieß unausbleiblich einen vortheilhaften Einfluß auf's Ganze haben. Und dann erst, wenn viele einzelne kleine Versuche mit glüklichem Erfolge bekrönt sind, dann erst lässt sich hoffen, daß man höhern Orts darauf merken und Etwas Grösseres unternehmen wird. Denn so auf' s Gerathewohl Etwas zu unternehmen, wenn' s auch wahrscheinlich ist, daß die Folgen gut sein werden, ist der meisten Großen Sache nicht. Solcher Fürsten giebt es genug, die den großen Friederich und den großen Josef in Dingen siegfriedisch nachahmen, die zur Pracht und zum Staat gehören; aber wahrhaftig wenige, die darnach ringen, in Wohlthun und Beförderung 116|117 des Glüks der Unterthanen, in Aufmunterung nüzlicher Wissenschaften und Künste ihnen zu gleichen. Sowohl die Sache selbst, als auch die Erfahrung lehren, daß solche Einrichtungen im Kleinen von den schönsten Folgen gewesen sind und noch sind. Man werfe nur einen Blik auf den Theaterkalender von diesem Jahre 1784, den ich erhalte, indem ich dieses schreibe. Wer freut sich nicht über den guten Fortgang und die Aufnahme der deutschen gesellschaftlichen und Kindertheater, die die vortheilhaftesten Folgen für die Mitglieder sowohl, als die Oerter, in welchen sie sind, haben ... etc.
*Der S. 122 "D." unterzeichnete Artikel stellt den Anhang zu einer "Beantwortung der Frage: Warum hat Deutschland noch kein Nationaltheater" überschriebenen Abhandlung dar, die auf S. 16-110 der Beiträge zum Theater, zur Musik und der unterhaltenden Lektüre überhaupt steht. |