Giacomo Girolamo Casanova (1725-1798)
Ölgemälde von Pietro Longhi (1702-1785).
Bildquelle: www.giacomo-casanova.de/
artists.htm
Casanova war mit d’Argens’ Werk recht gut vertraut. Im Mai 1769 besuchte er den Marquis in der Nähe von Aix-en-Provence auf dem Landsitz seines Bruders, des Parlamentspräsidenten d'Eguilles. Diesen Besuch schildert Casanova in seinen Memoiren wie folgt:
[Text français de cet extrait de l'Histoire de ma vie de Casanova]
"Am nächsten Tage erkundigte ich mich nach dem Marquis d'Argens und erfuhr, er sei auf dem Lande bei seinem Bruder, dem Parlaments-präsidenten, Marquis d'Eguilles. Ich begab mich dorthin. Der Marquis, der mehr durch die beständige Freundschaft des verstorbenen Friedrich II. als durch seine heutigentags von keinem Menschen mehr gelesenen Werke berühmt geworden ist, war damals schon alt. Sehr ehrenhaft und sehr sinnlich, liebenswürdig und witzig, ein dem Genuß ergebener Mann, lebte der Marquis d'Argens mit der Schauspielerin Cochois zusammen, die er geheiratet hatte und die es verstand, sich dieser Ehre würdig zu zeigen. Sie hielt sich als seine Frau für verpflichtet, die erste Dienerin ihres Mannes zu sein. Der Marquis selber besaß ein gründliches gelehrtes Wissen und eine große Kenntnis der griechischen und hebräischen Sprache; er war mit einem wunderbaren Gedächtnis begabt und infolgedessen vollgepfropft mit Gelehrsamkeit. Er empfing mich sehr gut, da er sich erinnerte, was sein Freund, der Lordmarschall, ihm über mich geschrieben hatte. Er stellte mich seiner Frau und seinem recht reichen Bruder vor, dem Präsidenten d'Eguilles und verdienstvollen Parlamentsmitglied von Aix. Er war ein Freund der Literatur. Er führte einen streng sittlichen Lebenswandel, und dazu veranlaßte ihn noch mehr sein Charakter als sein religiöser Glaube. Das will viel sagen; denn er war aufrichtig fromm, obwohl er ein kluger Mann war. Er war mit den Jesuiten sehr befreundet und war sogar selbst einer, und zwar einer von denen, die man als die kurzröckigen Jesuiten bezeichnete; er liebte seinen Bruder zärtlich und beklagte ihn; doch hoffte er immer noch, daß die Wirkung der Gnade ihn früher oder später in den Schoß der Kirche zurück führen würde. Sein Bruder ermutigte ihn zu diesen Hoffnungen und lachte zugleich darüber. Beide konnten es nicht vermeiden, den anderen mit Worten über die Religion zu ärgern.
Man stellte mich einer zahlreichen Gesellschaft vor, die aus Verwandten beiderlei Geschlechts bestand. Alle waren liebenswürdig und höflich, wie eben der Adel der Provence durchweg ist.
Man spielte Komödie auf einem kleinen Theater, aß und trank sehr gut und ging trotz der Jahreszeit spazieren. Aber in der Provence macht sich die Strenge des Winters nur fühlbar, wenn der Nordwind weht, was leider oft der Fall ist.
Eine Berlinerin, die Witwe eines Neffen des Marquis d'Argens, war nebst ihrem Bruder, der Gotzkowsky hieß, anwesend. Der noch sehr junge Mann, ein lustiger Tollkopf, hatte seine Freude an allen Vergnügungen, die im Hause des Präsidenten stattfanden, kümmerte sich aber gar nicht um den Gottesdienst, der jeden Tag abgehalten wurde. Als geborener Ketzer dachte er höchst selten an die Kirche; während das ganze Haus der Messe beiwohnte, die der Jesuit, bei dem die ganze Familie beichtete, jeden Tag las, spielte er in seinem Zimmer Flöte; er spottete über alles. Mit seiner Schwester, der jungen Witwe, war es anders; sie war nicht nur katholisch geworden, sondern auch so fromm, daß das ganze Haus sie für eine Heilige ansah, obgleich sie erst zweiundzwanzig Jahre alt war. Das war das Werk des Jesuiten. Ihr Bruder erzählte mir, ihr angebeteter Mann, der an der Schwindsucht gestorben sei, habe im Augenblick seines Todes zu ihr gesagt: er könne nicht hoffen, sie im Jenseits wiederzusehen, wenn sie nicht katholisch werde. Diese Worte hatten sich in ihr Gedächtnis eingegraben. Sie hatte sich entschlossen, Berlin zu verlassen und bei den Verwandten ihres verstorbenen Mannes zu leben. Niemand hatte gewagt, sich ihrer Absicht zu widersetzen. Ihr neunzehnjähriger Bruder erklärte sich bereit, sie zu begleiten, und sobald sie in Aix und Herrin ihrer selbst war und sich den Verwandten des Verstorbenen offenbart hatte, herrschte die größte Freude in der ganzen Familie; jeder war nettl zu ihr, umsorgte sie, und man bestärkte sie, daß dies der einzige Weg sei, um ihren Mann mit Leib und Seele wiederzusehen. Der Jesuit vollendete diese Bekehrung, so hörte ich vom Marquis d'Argens; er mußte sie auch nicht belehren, da sie schon die Taufe erhalten und abgeschworen hatte. Diese angehende Heilige war häßlich.
Ihr junger Bruder wurde bald mein Freund. Er kam alle Tage nach Aix, um mich in alle Häuser einzuführen. Wir waren jeden Tag mindestens dreißig Personen bei Tisch; das Essen war gut, ohne üppig zu sein. Es herrschte der Ton der guten Gesellschaft, die Scherze waren geschmackvoll und alle Bemerkungen anständig. Ausgeschlossen waren doppeldeutige Bemerkungen, die sich auf Liebschaften bezogen oder darauf hätten bezogen werden können. Wenn dem Marquis d'Argens eine derartige Bemerkung entschlüpfte, so schnitten die Damen jedesmal Gesichter, und der Beichtvater beeilte sich, ein anderes Gespräch zu beginnen. Dieser Beichtvater hatte nichts von der jesuitischen Weltgewandtheit an sich, denn er ging auf dem Lande wie ein einfacher Abbe gekleidet, und ich hätte nicht erraten, daß er Jesuit wäre. Der Marquis d'Argens hatte mich darauf aufmerksam gemacht; übrigens übte die Gegenwart des Mannes durchaus keine Wirkung auf meine natürliche Heiterkeit aus. Ich erzählte in sorgfältig gewählten Ausdrücken die Geschichte von dem Bilde der Heiligen Jungfrau, die das Jesuskind stillte und von den Spaniern nicht mehr angebetet wurde, als der unglückselige Pfarrer ihren schönen Busen mit einem häßlichen Tuch hatte bedecken lassen. Ich weiß nicht mehr, auf welche besondere Art ich diese Geschichte erzählte, aber alle Damen lachten darüber. Dieses Lachen mißfiel dem Jesuiten so sehr, daß er sich erlaubte, mir zu sagen, man dürfe Geschichten, die sich zweideutig auslegen ließen, nicht öffentlich erzählen. Ich dankte ihm mit einer Neigung des Kopfes, und um das Gespräch abzulenken, fragte der Marquis d'Argens mich, wie man auf italienisch eine große Fleischpastete nenne, die Madame d'Argens gerade eben verteilte und die von allen ausgezeichnet gefunden wurde. »Wir nennen das eine Crostata,12 doch weiß ich nicht, wie man die göttlichen Leckereien bezeichnet, mit denen sie gefüllt ist.« Das waren Fleischstückchen, Kalbsmilch, Champignons, Artischockenböden, Gänseleber und was weiß ich! Der Jesuit fand, ich machte mich über den ewigen Ruhm lustig, indem ich dieses Allerlei göttlich nannte. Über diese dumme Empfindlichkeit mußte ich unwillkürlich laut auflachen. Der Marquis d'Eguilles nahm meine Partei und sagte in gutem Französisch, das ist eine übliche Bezeichnung für solche Leckereien.
Nachdem er sich in dieser Weise erlaubt hatte, gegen den Beichtvater aufzutreten, hielt der verständige Mann es für besser, von etwas anderem zu sprechen. Unglücklicherweise trat er erst recht ins Fettnäpfchen, indem er mich fragte, welchen Kardinal man nach meiner Meinung zum Papst machen würde.
»Ich möchte darauf wetten, daß man den Pater Ganganelli wählen wird, denn er ist im Konklave der einzige Kardinal, der zugleich Mönch ist.«
»Warum muß man denn durchaus einen Mönch zum Papst wählen ?«
»Weil nur ein Mönch imstande ist, das zu tun, was Spanien von dem neuen Pontifex verlangt.«
»Sie meinen die Aufhebung des Jesuitenordens ?«
»Ganz recht.«
»Spanien verlangt sie vergebens.«
»Ich wünsche es; denn in den Jesuiten liebe ich meine Lehrer; aber ich hege große Befürchtungen, denn ich habe einen schrecklichen Brief gelesen. Abgesehen davon, wird Kardinal Ganganelli noch aus einem anderen Grund gewählt werden, über den Sie lachen werden, der aber nichtsdestoweniger ausschlaggebend ist.«
»Was ist das für ein Grund? Nennen Sie ihn uns; wir werden lachen.«
»Er ist der einzige Kardinal, der keine Perücke trägt. Solange das Papsttum besteht, hat auf Sankt Peters Stuhl niemals ein Papst mit einer Perücke gesessen.«
Da ich allen diesen Bemerkungen den Anstrich eines leichten Scherzes gab, so wurde viel darüber gelacht; hierauf aber veranlaßte man mich, ernsthaft über die Aufhebung des Ordens zu sprechen, und als ich alles sagte, was ich vom Abbate Pinzi erfahren hatte, sah ich den Jesuiten erbleichen.
»Der Papst«, sagte er, »kann diesen Orden nicht aufheben.«
»Augenscheinlich, Monsieur, haben Sie nicht bei den Jesuiten studiert; denn sie haben den Satz aufgestellt: Der Papst kann alles - et aliquid pluris. «
Infolge dieser Worte glaubten alle, ich wüßte nicht, daß ich mit einem Jesuiten spräche, und da er nicht antwortete, so begannen wir von etwas anderem zu reden.
Nach dem Essen bat man mich, zur Aufführung des Polyeucte dazubleiben; aber ich entschuldigte mich und fuhr mit dem jungen Gotzkowsky nach Aix zurück. Dieser erzählte mir die ganze Geschichte seiner Schwester und schilderte den Charakter der verschiedenen Personen, aus denen die tägliche Gesellschaft des Marquis d'Eguilles bestand. Ich sah, daß es mir unmöglich sein würde, mich ihnen anzupassen, und wenn ich nicht durch den jungen Berliner reizende Bekanntschaften gemacht hätte, so wäre ich nach Marseiile gegangen. Mit Gesellschaften, Bällen, Soupers und Liebeleien mit sehr hübschen Mädchen verbrachte ich den Karneval und einen Teil der Fastenzeit in Aix, immer mit Gotzkowsky zusammen, der jeden Tag in die Stadt kam, um mit mir unterhaltsame Abende zu verbringen.
Ich hatte Monsieur d'Argens, der ebensogut griechisch sprach wie französisch, eine Ilias von Homer zum Geschenk gemacht. Ferner hatte ich seiner Adoptivtochter eine lateinische Fassung des Romans Argenis geschenkt, denn sie verstand die lateinische Sprache sehr gut. Meine Ilias-Ausgabe hatte den Kommentar von Porphyrios. Es war ein seltenes Exemplar in reichem Einbande. Der Marquis kam nach Aix, um mir zu danken, und ich mußte, seiner Einladung folgend, noch einmal auf das Land hinausfahren zum Mittagessen.
[...]
Als ich meine Kräfte völlig wiedererlangt hatte, begab ich mich zum Marquis d'Argens beim Präsidenten d'Eguilles, um mich zu verabschieden. Nach dem Mittagessen verbrachte ich drei Stunden mit dem gelehrten alten Herrn, der mir hundert Geschichten aus dem Privatleben des preußischen Königs erzählte, die sich alle als Anekdoten veröffentlichen ließen, sobald ich Zeit und Lust hätte. Er war ein Herrscher mit großen Eigenschaften und großen Fehlern, wie fast alle bedeutenden Männer; doch die Gesamtheit und die Schwere seiner Fehler waren geringer.
Der ermordete König von Schweden fand ein Vergnügen darin, Haß zu erregen und ihm zu trotzen, indem er seinen Neigungen nachging. Er war der geborene Despot und mußte ein Despot sein, um seine ihn beherrschende Leidenschaft zu befriedigen: nämlich von sich reden zu machen und als großer Mann zu gelten. Darum haben seine Feinde sich dem Tode geweiht, um ihm das Leben zu rauben. Der König hätte sein Ende voraussehen müssen, denn seine Gewalttaten hatten schon lange
die von ihm Unterdrückten zur Verzweiflung getrieben. Der Marquis d'Argens schenkte mir alle seine Werke. Ich fragte ihn, ob ich mich wirklich rühmen könnte, alle zu besitzen und er antwortete mir: »Ja, mit Ausnahme eines Teils meiner Lebensgeschichte, die ich in meiner Jugend geschrieben und damals zum Druck gegeben habe; nun bereue ich es, sie geschrieben zu haben.«
»Warum?«
»Weil ich die Begeisterung hatte, nur die Wahrheit sagen zu wollen, und mich damit unsterblich lächerlich gemacht habe. Sollten Sie jemals eine solche Lust verspüren, so weisen Sie sie als eine Versuchung von sich. Ich kann Ihnen versichern, Sie würden es bereuen; denn als Ehrenmann könnten Sie nur die Wahrheit schreiben und als wahrheitsliebender Berichterstatter wären Sie nicht nur verpflichtet, nichts zu verschweigen, sondern Sie dürften nicht einmal mit den von Ihnen begangenen Fehlern eine feige Nachsicht üben, und als echter Philosoph müßten Sie dann alle Ihre guten Taten richtig hervorheben. Sie wären genötigt, sich im Wechsel zu tadeln und zu loben. Wenn Sie etwas zu gestehen hätten, würde man es für bare Münze nehmen; wenn Sie aber wahrheitsgemäß etwas Gutes von sich sagen, würde man Ihnen nicht glauben. Außerdem würden Sie sich Feinde machen, wenn es notwendig wäre, Geheimnisse zu berichten, die die Menschen, die sie betreffen, unehrenhaft erscheinen lassen. Wenn Sie die Namen verschweigen, würde man sie erraten; das ist das gleiche. Glauben Sie mir, lieber Freund, wenn es einem Menschen nicht erlaubt ist, von sich selber zu sprechen, so ist es ihm noch viel weniger erlaubt, über sich zu schreiben. Man gestattet es höchstens einem Menschen, den eine Verleumdung zwingt, sich zu verteidigen. Hören Sie auf mich, begehen Sie nie den Fehler und schreiben Ihre Lebenserinnerungen nieder.«
Durch seine weisen Reden überzeugt, versprach ich ihm, niemals eine solche Torheit zu begehen; trotzdem tue ich seit sieben Jahren nichts anderes, und es ist für mich allmählich eine Notwendigkeit geworden, die Sache zu Ende zu bringen, obwohl ich bereits bereue, sie angefangen zu haben. Aber ich schreibe in der Hoffnung, daß meine Geschichte niemals veröffentlicht wird; ich bin sicher, daß ich während meiner letzten Krankheit endlich so vernünftig sein werde, alle meine Hefte in meiner Gegenwart verbrennen zu lassen. Sollte dies nicht der Fall sein können, so rechne ich auf die Nachsicht meiner Leser, und diese werden sie mir nicht vorenthalten, wenn sie erfahren, daß die Niederschrift meiner Erinnerungen für mich das einzige Heilmittel war, um nicht wahnsinnig zu werden oder vor Ärger zu sterben über die Unannehmlichkeiten, die mir die Halunken im Schloß des Grafen von Waldstein in Dux bereitet haben. Indem ich täglich zehn oder zwölf Stunden schrieb, habe ich verhindert, daß mich der düstere Verdruß umbrachte oder mir die Vernunft raubte. Wir werden darüber zur gegebenen Zeit sprechen."
Casanovas Memoiren. Vollständige Übersetzung in zwölf Bänden von Heinrich Conrad nach der Ausgabe München und Leipzig, 1907-1909. Revidiert und neu hrsg. von Günter Albrecht in Zusammenarbeit mit Barbara Albrecht, Bd. 11, Leipzig und Weimar: Kiepenheuer, 1988, S. 162-174. |